Hat Israel möglicherweise einen großen Denkfehler begangen?
Israel hat sich beim Versuch, seine durch einen terroristischen Angriff der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Staatsbürger zurückzuholen, auf einzelne Vorstöße auf des von der Hamas kontrollierte Gebiet beschränkt, jedoch keine Anstalten gemacht, dieses Gebiet Ort für Ort nach und nach zu erobern und militärisch zu besetzen - im Gegenteil, die Israel Defense Forces IDF haben sich immer wieder auf ihr eigenes Gebiet zurückgezogen. Damit war der Hamas und ihren Helfershelfern jedesmal die Möglichkeit gegeben, ihre Machtbasis nach Rückzug der IDF erneut zu festigen; die Bevölkerung musste den Eindruck gewinnen, dass letztendlich der Zugriff der IDF nicht zu einer grundlegenden Veränderung führen würde, sondern sie weiterhin unter der Knute der Hamas würde leben müssen. Eine Chance, einen nachhaltigen Regimewechsel in Gaza militärisch zu erzwingen, haben die Israelis ausgeschlagen mit dem zweifelhaften „Erfolg“, dass die Hamas noch immer Anschläge verüben kann und eine große Zahl der Geiseln immer noch in der Hand der Terroristen ist. Ein Hintergrund dürfte sein, dass die „veröffentlichte Weltmeinung“ heutzutage die militärische Besetzung eines feindlichen Gebietes als mit der „Selbstbestimmung“ der Menschen in dem betreffenden Gebiet nicht vereinbar betrachtet, ohne nachzufragen, ob das existierende Regime eigentlich inzwischen noch dem Willen der Bevölkerung entspricht, insbesondere dann, wenn - wie in Gaza geschehen - die letzte Wahl seit vielen Jahren zurückliegt und die Machthaber sich dort von den Menschen seitdem ohne weitere Legitimation festgesetzt haben.
Wäre es vielleicht besser gewesen, Israel hätte von vornherein erklärt, den Gazastreifen zu besetzen, die Staats- und Regierungsfunktion dort durch militärische Kommandobehörden („Militärregierung“) zu übernehmen und aus dieser Position heraus dann Menschen zu finden, die mittelfristig ein neues Staatswesen aufzubauen in der Lage sind?
Diese Frage lässt frappierende Parallelen zum Vorgehen der Alliierten des Zweiten Weltkriegs in Deutschland erkennen: zumindest Amerikaner, Briten und Franzosen haben genau diesen Weg beschritten und es geschafft, in ihren drei westlichen Besatzungszonen bereits zwei Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit des Nazi-Regimes zunächst neue Strukturen auf der Kommunal- und Länderebene aufzubauen, um dann nach vier Jahren auch auf Ebene der Westzonen mit der Bundesrepublik eine neue gesamtstaatliche Administration zu schaffen. Die Militärbefehlshaber wurden danach „Hohe Kommissare“ und später dann Botschafter, die militärischen Kommandostrukturen wurden durch das Besatzungsstatut abgelöst. All‘ das war völkerrechtlich zwar im wesentlichen Neuland, vollzog sich aber in geregelten Formen. In der sowjetischen Besatzungszone lief die Entwicklung zwar etwas anders, endete aber auch hier in der Schaffung einer Eigenstaatlichkeit auf dem Gebiet Mitteldeutschlands.
Hätte Israel einen ähnlichen Weg beschreiten können? Ich meine: ja! Eine Eroberung und militärische Besetzung wäre zwar nicht verlustfrei verlaufen, aber auch der jetzige Zustand fordert tagtäglich Verluste an Menschenleben auf beiden Seiten, nicht zuletzt und insbesondere aber bei denjenigen, die am wenigsten dafür können, nämlich den zivilen Bewohnern des Gazagebietes, die einerseits zu Geiseln der Hamas-Terroristen geworden und andererseits die Leidtragenden der regelmäßigen militärischen Vorstöße der IDF sind. Sie würden wahrscheinlich unter einer israelischen Besatzungsregierung ein sichereres Leben führen können als in der ständigen Unsicherheit, in der sie aktuell leben müssen. Hinzu kommt: einer Besatzungsregierung obliegt nach dem humanitären Völkerrecht die Verpflichtung, die Menschen im besetzten Gebiet ausreichend mit Lebensmitteln, Trinkwasser und medizinisch zu versorgen, ein Umstand, der nicht nur rein humanitär bedingt ist, sondern den Besatzungsbehörden auch die Chance bietet, Vertrauen in der Bevölkerung aufzubauen und „gutwillige“ Menschen zu identifizieren, die dann in der Folge für den Aufbau einer neuen Ziviladministration gewonnen werden können, die später ein friedliches Zusammenleben oder zumindest Nebeneinander der früher verfeindeten Völker organisieren können.
Diese Chance, über eine Besetzung und Übernahme der Polizei- und Regierungsgewalt - und der damit verbundenen humanitären Verantwortlichkeiten! - durch Besatzungsbehörden die Gewaltanwendung einzudämmen, hat Israel bislang verspielt, möglicherweise auch deswegen, weil dies die Festigung einer „Zwei-Staaten-Lösung“ bedeutet hätte, die die Regierung Netanjahu und insbesondere deren rechtsradikale Koalitionspartner vehement ablehnen. Und so steht zu befürchten, dass damit erneut eine Situation bevorsteht, die durch erneute Vertreibung und Drangsalierung der Menschen in Gaza noch mehr Hass hervorruft und vertrauensbildende Maßnahmen unmöglich macht.
Christoph Brodesser hat dies geteilt.